Hänsel und Gretel… haben ein Meeting

Hänsel und Gretel haben ein spontanes Meeting im Wald. Äh… das heißt… sie haben sich verirrt. Diese Tatsache ist nicht weg zu diskutieren. Hier ist Wald, dort ist Wald. Hier ist der Wald dunkler als dort. Hier geht es bergauf, dort bergab. Hier ist es neblig, dort gibt es Dornenhecken. Überall ist es ein bisschen anders ungemütlich. Aber eins ist klar: Hier sollten die beiden nicht sein; wo auch immer „hier“ genau ist. Und deshalb haben sie beschlossen, spontan ein Meeting abzuhalten und über ihre Situation zu diskutieren.

Hänsel_und_Gretel

Man kann nun unterschiedliche Gründe suchen, wie die beiden in diese Lage gekommen sind. Die naheliegendste Ursache ist wohl die Stiefmutter. Es war ja schließlich ihre Idee, die Kinder in den Wald zu schicken. Und jeder weiß, dass Stiefmütter böse sind, also muss sie einfach schuld sein.

Vielleicht steckt da aber auch mehr dahinter. Die Stiefmutter schickt ja nicht aus reiner Bosheit die Kinder weg. Gleich in den ersten beiden Sätzen des Märchens wird die Problematik schon beim Namen genannt:

Vor einem großen Walde wohnte ein armer Holzhacker mit seiner Frau und seinen zwei Kindern; das Bübchen hieß Hänsel und das Mädchen Grethel. Er hatte wenig zu beißen und zu brechen, und einmal, als große Theuerung ins Land kam, konnte er auch das täglich Brot nicht mehr schaffen.

Die Familie ist Opfer von Armut und Inflation. Also doch nicht die böse Stiefmutter. In der ursprünglichen Version des Märchens von 1812 ist auch von „Stiefmutter“ gar nicht die Rede, sondern nur von „Mutter“. Die wirtschaftliche und soziale Lage ist also dran Schuld, dass Hänsel und Gretel jetzt ziellos im Wald umher irren.

Damit scheint die Sache klar, aber auch so etwas geschieht ja nicht ohne Grund. Die Gebrüder Grimm schweigen sich darüber aus, aber womöglich war die Misswirtschaft von Königen und Fürsten dafür verantwortlich. Oder aber der Holzhacker hatte es sich mit den Dorfbewohnern verscherzt und niemand wollte mehr sein Holz kaufen, wodurch er verarmte. Als sich dann die gesamtwirtschaftliche Lage auch noch verschlechterte, traf das ihn und seine Familie besonders hart.

Wir könnten hier weiter spekulieren. Oder wir könnten uns fragen, was Hänsel und Gretel hätten tun können. Die beiden sind ja schon einmal in den Wald geschickt worden. Das ist dann ja nochmal gut gegangen, weil Hänsel den genialen Einfall mit den Kieselsteinen hatte. Offenbar haben sie sich aber keine Gedanken darüber gemacht, dass ihre Eltern sie ein weiteres Mal hätten wegschicken können. Hänsel war unvorbereitet und konnte keine Kieselsteine mehr sammeln, weil die Stiefmutter die Tür verschlossen hatte. Hänsel mag vielleicht sagen: „Hab ichs doch gesagt, die Stiefmutter war schuld!“.

Aber hätten die beiden Kinder sich nicht besser vorbereiten können? Vielleicht hätten sie für den Ernstfall schonmal eine Hand voll Kieselsteine im Haus deponieren können. Oder sie hätten sich andere Wegmarkierungen überlegen können. Dass die Idee mit den Brotkrumen nicht die beste ist, hätte ihnen mit ein bisschen Nachdenken auffallen müssen. Auf die Schnelle ist ihnen nichts besseres eingefallen. Das ist ja OK. Aber man muss es ja nicht drauf ankommen lassen. Eigentlich hatten sie genug Zeit, sich alternative Strategien zu überlegen — beispielsweise Abdrücke im Waldboden zu hinterlassen oder Zweige ab zu brechen. Sie haben es also versäumt, sich vor zu bereiten.

Auch längerfristige Überlegungen wären möglich gewesen. Sie hätten die Eltern zur Rede stellen können und dann nach einer generellen Lösung für das Problem mit dem Hunger suchen können. Vielleicht hätte der Holzhacker das Jagen erlernen können. Möglicherweise hätten sie auch auswandern bzw. fliehen können.

Es gibt viele Gründe für ihre Situation. Und viel, was sie hätten tun oder bedenken können. Allein… das hilft ihnen momentan nichts. Denn: Verdammt, die beiden sind immer noch in diesem gottverlassenen Wald und haben nichts zu beißen! Die ganzen Überlegungen sind gut und schön, aber sie helfen nicht. Jetzt zumindest nicht. Jetzt müssen sie erstmal den Weg finden. Und das werden sie nicht, wenn sie nur herumstehen und heulen.

Was sollen Hänsel und Gretel also tun? Wohin sollen sie gehen? Bergauf oder bergab? Richtung Nebel oder Richtung Dickicht? Vielleicht denkt Hänsel sowas wie „Lieber nicht bergab. Ich glaub, da gehts zur Stiefmutter und da will ich nicht mehr hin.“ Und Gretel denkt vielleicht „Zu Hause gab es auch so Dornenbüsche. Vielleicht ist das der richtige Weg.“

Es hilft nichts. Die Frage, die die beiden zuallererst klären müssen, ist doch, wo sie überhaupt hin möchten. Was ist das Zielbild? Wo soll es überhaupt hingehen?

Ordnen wir das mal: Es sind effektiv vier Fragen, die den beiden da durch den Kopf schießen:

  1. Wer ist Schuld an der Misere?
  2. Was hätten sie anders tun können? Was können sie daraus vielleicht für die Zukunft lernen?
  3. Was sind die direkten nächsten Schritte?
  4. Wo soll es überhaupt hingehen?

Wenn es Hänsel und Gretel so ähnlich geht, wie einem Team aus Softwareentwicklern, dann haben sie vermutlich das Problem, dass sie diese Fragen alle diskutieren und zwar gleichzeitig und ohne sie klar voneinander zu trennen. Das hat dann so schöne Effekte, wie, dass Hänsel gedanklich gerade bei Schuldzuweisungen ist, während Gretel schon die nächsten Schritte angehen will. Beide reden aneinander vorbei und werden dabei hungrig, ohne wirklich weiter zu kommen.

Nicht immer ist es so schlimm, dass alle diese Fragen vermischt werden, aber ich stelle doch immer wieder fest, dass Diskussionen durcheinander laufen, weil diese vier Fragen nicht sauber getrennt werden. Ich kann das an mir selbst ziemlich gut beobachten. Mir schießen diese Fragen alle gleichzeitig durch den Kopf und noch während ich rede, kommen mir Gedanken zu einer jeweils anderen Frage. Dann versuch ich irgendwie beide Gedanken auszusprechen und schließlich kommt irgendjemand anders, dem es quasi genauso geht, antwortet zuerst auf meine Aussagen und lenkt dann im selben Atemzug den Fokus auf eine dritte Frage. Die Diskussion mäandert zwischen verschiedenen Fragestellungen hin und her und es kommt irgendwie nicht das richtige dabei raus.

Ich halte es also für wichtig, die Fragen zu trennen und noch mehr: sie in der richtigen Reihenfolge zu diskutieren. OK, Hänsel und Gretel sind verirrt. Das ist erstmal Fakt und nicht zu ändern. Zuerst stellt sich die Frage nach dem Zielbild (Frage 4). Wo soll es überhaupt hingehen? Dann kann man daraus die nächsten Schritte ableiten (Frage 3). Wenn das klar ist, kann und sollte man sich in einer ruhigen Minute mal überlegen, was man aus der Sache lernen kann und wie man so einen Schlamassel in Zukunft verhindert (Frage 2). Frage 1, die Frage nach der Schuld ist im Gegensatz zu den anderen dreien genauso menschlich wie irrelevant. Sinn und Zweck dieser Frage ist, von den anderen dreien abzulenken. Sonst wäre es ja einfach.

Aber zurück zu den beiden Vogel-Fütterern: Wie könnte hier die Beantwortung der vier Fragen aussehen? Gehen wir das mal einzeln durch:

Vier: Hänsel und Gretel gehen zurück nach Hause, stellen ihre Eltern zur Rede und schlagen dem Vater vor, er soll lernen, wie man Kaninchen jagt. Der Mutter könnten sie das eigentlich auch vorschlagen, aber das ist ein zweihundert Jahre altes Märchen und Gleichberechtigung, GPS und Pizzaservice waren damals noch nicht erfunden. Wenn man sie die Eltern nicht willkommen heißen, können die beiden immer noch ins nächste Dorf gehen. Von da müsste man weiter sehen. Dorf wäre zumindest mal besser als Wald.

Drei: Die beiden gehen den Weg bergab. Hänsel meint, dass sie da her gekommen sind.

Zwei: Für den Fall, dass man sie nochmal aussetzen will, horten sie Kieselsteine und sie werden ausprobieren, wie man Spuren im weichen Waldboden hinterlässt. Letzteres könnte ihnen auch jetzt helfen, aus dem Wald heraus zu kommen. So sehen sie, ob sie möglicherweise ungewollt im Kreis laufen, etc. Außerdem wollen sie mehr mit dem Eltern reden bzw. von diesen Offenheit einfordern. Den Eltern wollen sie außerdem vorschlagen, einen Garten anzulegen, irgendwann mal Hühner zu kaufen und sich mit den Dorfbewohnern anzufreunden.

Eins: *seufz* Ich bin schuld. Ich hab die beiden aus einem Märchenbuch entführt und hier in mein Blog gezerrt. Können wir jetzt endlich die Kinder loslaufen lassen oder sollen sie weiter frieren?

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