Das Märchen von den smarten Zielen

Es war einmal ein König, der hatte drei Kinder und ein kleines, einstmals schönes Schloss. Das Schloss war alt und heruntergekommen und es war dort kalt und feucht. Der König aber war alt und Waise. Weil sich nun der Erzähler bei diesem Satz vertippt hatte, das aber nicht zugeben wollte, bedeutete das, dass der besagte Monarch keine Eltern mehr hatte. Also dachte der graue König bei sich:

„Ich bin alt und hier ziehts wie Hechtsuppe. Wenn ich nicht will, dass auch meine Kinder bald zu Waisen werden, muss sich da was ändern!“

Da der König aber sehr beschäftigt war, rief er Alice, seine älteste Tochter zu sich und sagte:

„Alice, ich bin alt und hier ziehts wie Hechtsuppe. Mach dass das besser wird. Hier hast du fünf Goldmünzen.“

Alice nahm die fünf Goldstücke, kaufte ein bisschen Plastikplane und verklebte damit die Fenster. Dann sagte sie:

„Ich habe die Fenster mit Plastikplane verklebt. Jetzt zieht es hier nicht mehr so. Lobe mich, oh väterlicher Herrscher!“

Der König konnte nicht bestreiten, dass es hier nicht mehr so zog, aber er war irgendwie trotzdem nicht zufrieden. Es war immer noch kalt und regnete zum Dach herein. Außerdem waren fünf Goldstücke für ein bisschen unansehnliche Plastikplane doch recht teuer.

Alice bestand aber darauf, gelobt zu werden, denn sie hatte ja die ihr gestellte Aufgabe gelöst. Und da der König ein gütiger Vater war, seufzte er, lobte seine Tochter widerwillig und gab ihr dann nochmal fünf Goldstücke, damit sie wenigstens auch das kaputte Dach reparierte.

Alice nahm das Geld und machte sich auf die Suche nach einem geschickten Dachdecker. Sie bastelte sich ein großes Schild und schrieb mit großen, freundlichen Lettern darauf: „DACHDECKER GESUCHT“. Damit lief sie durch das kleine Königreich und begann zu suchen. Nach einer Weile traf sie auf ein weißes Kaninchen, verirrte sich im Wunderland und ward fortan nicht mehr gesehen. Wenn man aber nach ihr fragte, so wusste man im ganzen Land, dass sie gegangen war um einen Dachdecker zu suchen.

Eine lange Zeit verging und viele Regentropfen flossen durch das undichte Dach in das nicht mehr ganz so zugige, aber immer modriger werdende Schloss. Dreimal hustete der alte und gütige König und trommelte dann mit den Fingern auf dem Küchentisch. Und da der König nicht nur alt und gütig war, sondern auch eine Menge Lebenserfahrung hatte, wusste er, was zu tun war. Er rief seinen Sohn Bob zu sich und sagte:

„Bob, ich bin alt und klapprig und dieses Schloss ist so feucht, dass mir der Stuhl unterm Arsch wegfault. Ich werde das Gefühl nicht los, dass das ungesund ist.“

Kaum hatte er das ausgesprochen, faulte der Stuhl vollends und der königliche Hintern landete unsanft auf dem Boden.

„Bob, mein Sohn, du bist doch ein recht strukturierter Kerl. Alice hat sich irgendwie bei der Suche nach dem Dachdecker verirrt. Suche du einen Dachdecker und stelle sicher, dass du dich nicht verläufst.“

Nach drei Wochen kam Bob freudestrahlend wieder und verkündete:

„Oh königlicher Vater, ich weiß jetzt wie ich einen Dachdecker finden werde. Ich brauche dazu einundzwanzig Goldstücke und hundertdreiundfünfzig Tage und fünfeinhalb Stunden Zeit. Außerdem benötige ich ein Pferd und eine Banane.“

Der alte König grunzte, legte die Stirn in Falten und rutschte unruhig auf dem Boden hin und her. Bob wusste bereits, dass der König seine Forderung nicht einfach so hinnehmen würde und deshalb war er vorbereitet. Er zeigte ihm eine wirklich, wirklich hübsche PowerPoint-Präsentation.

„Weißt du, oh royaler Grund meiner Existenz, als ich vor einem Jahr die Gilde der Projektmanager zu einer Audienz empfing, verrieten sie mir das Geheimnis guter Ziele. Ein Ziel muss SMART sein, das heißt spezifisch, messbar, akzeptiert, realistisch und terminiert. Nur SMARTe Ziele sind gute Ziele.

Folgendes ist also mein Ziel: Ich möchte, dass in genau einhundertdreiundfünfzig Tagen und fünfeinhalb Stunden ein geprüfter Dachdecker vor dir hier im Schloss steht. Ihm sollen weiterhin alle Gerätschaften und Materialien zur Verfügung stehen, damit er das Dach abdichten kann.“

„Klasse“, meinte sich der König. „Das ist genau das, was ich will! Dauert ein bisschen lang, aber immerhin. Aber sage, Sohn, warum dauert das eigentlich so lang?“

„Ich habe einen genauen Plan, wie ich den Dachdecker finden werde. Unser kleines Königreich hat zwölf Städte. Ich werde in jede Stadt reiten und dort zu Mittag auf dem Marktplatz verkünden, dass du, oh väterliche Krone des hiesigen Adels, einen Dachdecker suchst.

Alle Dachdecker sollen sich in genau 93 Tagen bei der großen Bibliothek einfinden. Dort werde ich den Dachdeckern drei Prüfungen stellen. Der, der daraus siegreich hervorgeht, soll für dich arbeiten dürfen.“

„Gutgut, mein Sohn. Ich sehe, du hast dir das sorgsam überlegt. Und warum brauchst du so viel Geld? Und eine Banane?“

„Drei Goldstücke muss ich für Wegzölle ausgeben, fünf für Bestechungsgelder und eines für den Hafer, den das Pferd frisst. Das Auswahlverfahren mit den drei Prüfungen wird mich nochmals drei Goldstücke kosten. Plus Spesen sind wir dann bei 21 Goldstücken.

Und die Banane brauche ich für den Bibliothekar. Dieser ist ein Orang-Utan und lässt sich mit Gold nicht bestechen. Aber er mag Bananen. Ebensolche sind in einem Märchen, das in einer mittelalterlichen Fantasy-Welt spielt, äußerst selten und so wird der Bibliothekar für eine einzige Banane die komplette Organisation des Auswahlverfahrens übernehmen. Dadurch gelingt es mir, die Ausgaben auf ein Minimum zu beschränken.“

Der König war beeindruckt von der Weitsichtigkeit seines Sohnes. Wäre der König ein geübter Optiker gewesen, hätte er Bob eine Brille verkauft. So aber sagte er:

„Bob, du bist ein verständiger und weitblickender Prinz. Und ich sage dir: Wenn du mir den Dachdecker bereits nach einhundertdreiundzwanzig Tagen präsentierst und dieser eine Unbedenklichkeitsbescheinigung der Dachdeckergilde vorweisen kann, so erhältst du noch weitere fünf Goldstücke und eine Truhe aus intelligentem Birnbaumholz.“

„Danke, oh königlicher Urgrund meines Handelns. Ich werde dich nicht enttäuschen.“

Und mit sagenhaftem Eifer und atemberaubender Präzision, die der Erzähler am liebsten mit der einer Dampfwalze verglichen hätte, verfolgte Bob seinen Plan und sein SMARTes Ziel, einen Dachdecker zu finden. Allerdings waren Dampfwalzen zu dieser Zeit noch nicht erfunden, also verglich der Erzähler Bobs Präzision mit der eines großen und schweren pferdelosen Wagens, der zähflüssiges Kopfsteinpflaster glättete.

Tag 1:
Alles war bis ins kleinste Detail vorbereitet. Das Pferd stand bereit: gewaschen, gefüttert, gesattelt. Die beiden vollgepackte Satteltaschen waren mit allem versehen, was Bob auf dieser Reise brauchen würde. Er bestieg das prächtige Tier und nahm als letztes noch die Banane in Empfang die ihm ein treuer Knecht heraufreichte als handelte es sich um einen uralten, goldverzierten Dolch, dessen magische Kräfte niemand zu ermessen wagte.

Bob machte sich also auf den Weg und ritt mit stolzer Miene zum Schlosstor hinaus, sein Ziel fest vor Augen — ganz fest. — Er hatte sein Ziel so dermaßen fest vor Augen, dass er fast nicht bemerkt hätte, dass sich sein Pferd einen rostigen Nagel eintrat. Aber nur fast, denn er war ein aufmerksamer Mensch… und weil das Tier seinen Schmerz auch unmissverständlich deutlich machte, indem es den Reiter in hohem Bogen auf den Erdboden verfrachtete.

Tag 2:
Bob ritt zum Schlosstor hinaus — mit etwas weniger stolzer Miene und auf einem anderen, weniger hübschen, aber dafür unverletzten Pferd. Bob lies sich natürlich nicht entmutigen. Er hatte ja ein Ziel, ein SMARTes Ziel. Und genauso smart hatte Bob auf die Widrigkeiten des echten Lebens reagiert, was ihn zumindest innerlich mit einer gewissen Art Stolz erfüllte.

Tag 9:
Bob stand auf einem Marktplatz und erzählte von alten Königen, kaputten Schlössern, fehlenden Dachdeckern und drei harten Prüfungen.
Währenddessen nieste der König weit entfernt in seinem Schloss.

Tag 12:
Bob stand auf einem Marktplatz und erzählte von alten Königen, kaputten Schlössern, fehlenden Dachdeckern und drei harten Prüfungen.
Währenddessen hustete der König weit entfernt in seinem Schloss und hoffte, dass er nicht krank würde.

Tag 26:
Bob stand auf einem Marktplatz und erzählte von alten Königen, fehlenden Dachdeckern und drei harten Prüfungen.
Währenddessen erholte sich der greise König von seiner Erkältung.

Tag 34:
Bob stand auf einem Marktplatz und erzählte von alten Königen, fehlenden Dachdeckern und drei harten Prüfungen.
Währenddessen schimmelte der Dachboden des weit entfernten Schlosses.

Tag 57:
Bob stand auf einem Marktplatz und erzählte von fehlenden Dachdeckern und drei harten Prüfungen.
Währenddessen ärgerte sich der König über Ratten weit entfernt in seinem Schloss.

Tag 61:
Bob stand auf einem Marktplatz und erzählte von fehlenden Dachdeckern und drei harten Prüfungen.
Währenddessen faulten die Dachbalken im weit entfernten Schloss.

Tag 69:
Bob stand auf einem Marktplatz und erzählte von bla, bla, bla. Von dem ganzen Zeug eben.
Währenddessen fing sich der König eine weitere Erkältung ein und bekam Schüttelfrost weit entfernt in seinem Schloss.

Tag 70:
Bob wurde ausgeraubt. Aber selbst darauf war Bob vorbereitet. Das meiste Geld trug Bob eingenäht in seiner Unterhose und so erbeuteten die fiesen Wegelagerer nur ein Goldstück. Damit hatte er immer noch genug Geld um sein Ziel zu erreichen. Womit er nicht gerechnet hatte, war, dass die Räuber ihm auch sein Pferd wegnehmen würden.

Tag 71:
Bob entschloss sich, flexibel zu sein und die restlichen Städte links liegen zu lassen. Er machte sich also auf den Weg zur Bibliothek, wo er schon bald Heerscharen von Dachdeckern erwartete, denen er drei schwere Prüfungen zu stellen gedachte.
Währenddessen stürzte im Westflügel des weit, weit entfernten, kleinen Schlosses das Dach ein.

Tag 92:
Kurz vor knapp erreichte Bob die Bibliothek. Jetzt musste nur noch das Auswahlverfahren organisiert werden. Das sollte ja der Bibliothekar übernehmen. Doch Bobs Pläne wurden jäh zunichte gemacht, als er feststellte, dass sich die Banane noch immer in der Satteltasche befand und diese immer noch an genau dem Pferd befestigt war, das ihm vor gut drei Wochen geklaut worden war.
Währenddessen verbreitete eben genau diese geraubte Banane einen Geruch, den man in gehobenen Kreisen mit dem Attribut „unerfreulich“ bezeichnen und in weniger gehobenen Achtecken mit „bestialisch stinkend“ beschreiben würde. Was die niederen Dreiecke dazu sagen würden, muss hingegen für immer ein Geheimnis bleiben, denn diese Bits hier weigern sich, eben dieses abzuspeichern.

Tag 93:
Fünf Dachdecker fanden sich ein und Bob wies sie an, noch ein Weilchen zu warten, während noch die letzten Vorbereitungen für die Prüfungen im Gange seien. Nach einer knappen Stunde ging einer der Dachdecker wieder.
Währenddessen versuchte Bob auf dem Schwarzmarkt eine Banane zu erstehen.

Tag 95:
Bob hatte einen Händler gefunden, der ihm für einen recht teuren Spottpreis eine Banane verkaufte. Bob fand die Banane ein wenig „unerfreulich“, aber Bob hatte sich nun einmal Ziele gesetzt und „An Tag 90 möchte ich den Bibliothekar mit einer Banane bestechen, damit er das Auswahlverfahren organisiert“ war eines davon. Dieses Ziel wollte Bob nun auch erreichen. — zwar etwas verspätet, aber Ziele ließen sich ja anpassen. Um nun dieses Ziel zu erreichen, musste unweigerlich die Banane gekauft werden. Außerdem verkaufte ihm der selbe Händler ein gar nicht mal so übles Pferd, das seinem geklauten zum Verwechseln ähnlich sah. Da bot es sich natürlich an, vom selben Händler auch die Banane zu erstehen.
Währenddessen waren bereits zwei weitere Dachdecker wieder auf dem Heimweg.

Tag 96:
Bob konnte nun endlich den Bibliothekar bestechen. Und das klappte auch vorzüglich. Der Bibliothekar versprach das Auswahlverfahren zu organisieren und alles zu tun, was Bob nur wollte, wenn dieser im Gegenzug die Banane, die einen so dermaßen… äh… unerfreulichen Geruch verströmte, nur weit genug von hier entfernte — so weit, dass er diese ganz sicher niemals wieder zu Gesicht und schon gar nicht zu Geruch bekäme.
Währenddessen erholte sich der König langsam wieder von der Lungenentzündung, zu der sich die Erkältung ausgeweitet hatte — weit, weit entfernt in seinem Schloss.

Tag 97:
Für die verbliebenen zwei Dachdecker begann das Auswahlverfahren. „Ein Dachdecker muss viel wissen“, sagte der Bibliothekar bedeutungsvoll. „Sagt mir: Was versteht man unter einem Ziegel?“

Kandidat A: „Keine Ahnung“

Kandidat B: „Die Dinger, die man aufn Dach drauflegt vielleicht?“

Der Bibliothekar war zufrieden. Die erste Prüfung hatte Kandidat B bestanden.

Tag 98:
Nachdem sich die beiden Dachdecker in der Theorie gemessen hatten, sollten sie nun auch in der Praxis gegeneinander antreten. „Ein Dachdecker muss ein Dach decken können“, sagte der Bibliothekar bedeutungsvoll. „Ihr seht hier zwei Hundehütten und ein paar Dachziegel. Deckt das Dach der Hundehütte.“

Kandidat A zerbrach die Hälfte der Ziegel, beschädigte einen Dachbalken und gab dann auf.

Kandidat B konnte das Dach decken. Nicht wirklich sorgfältig, aber immerhin blieben die Ziegel irgendwie auf dem Dach liegen.

Der Bibliothekar war zufrieden. Auch die zweite Prüfung hatte Kandidat B bestanden.

Tag 99:
Der Bibliothekar rechnete Bob vor, dass auch ohne die dritte Prüfung feststand, wer der bessere Dachdecker war. Aber Bob blieb hart. Er hatte drei Prüfungen versprochen und dann mussten es auch drei Prüfungen sein. Das gesetzte Ziel war fast erreicht.

„Ein Dachdecker muss schwindelfrei sein“, sagte der Bibliothekar bedeutungsvoll. „Klettert auf das Dach der Bibliothek.“

Kandidat A getraute sich nicht und blieb unten.

Kandidat B kletterte hinauf, fiel herab und brach sich das Genick.

Der Bibliothekar war zufrieden. „Hiermit erkläre ich Kandidat A zum Sieger.“

Tag 100:
Selbstverständlich konnte Kandidat A keine Unbedenklichkeitsbescheinigung der Dachdeckergilde vorzuweisen. Eine solche zu erhalten, dauert normalerweise zwei bis drei Monate. Sie hatten gerade mal gut drei Wochen. Dennoch musste es sein. Also machten sie sich auf den Weg zur Hauptverwaltung der Dachdeckergilde.
Währenddessen vermehrten sich die Ratten in der Speisekammer des weit entfernten Schlosses.

Tag 107:
Die Experten der Dachdeckergilde erklärten Bob, dass die Erstellung einer Unbedenklichkeitsbescheinigung Zeit in Anspruch nehme. Nur so könne man tatsächliche Unbedenklichkeit auch garantieren.

Tag 108:
Bob versuchte die Experten der Dachdeckergilde zu bestechen.

Tag 109:
Bob versuchte die Experten der Dachdeckergilde anzuflehen.

Tag 110:
Bob drohte den Experten der Dachdeckergilde eine harte höchstkönigliche Bestrafung an, sollten sie nicht kooperieren. Widerwillig fügten sich die Experten und stimmten einer verkürzten Unbedenklichkeitsprüfung zu — allerdings nur unter der Maßgabe, dass sie in die Bescheinigung mit aufnehmen würden, dass nur eine verkürzte Unbedenklichkeitsprüfung stattgefunden habe.

Tag 114:
Bob drängte die Experten noch schneller zu prüfen und zeigte ihnen eine wahrhaft unerfreuliche Banane. Die Experten brachen die Prüfungen ab und verfassten ein Zertifikat: „Nach stark verkürzter Prüfung stellen wir fest, dass die Unbedenklichkeit dieses Dachdeckers nicht auszuschließen ist.“ Noch am selben Tag machten sich Bob und der Dachdecker schleunigst auf dem Weg zum Schloss. Da kein zweites Pferd zur Verfügung stand und in der Kürze der Zeit auch kein weiteres aufzutreiben war, ritten sie zu zweit auf dem Gaul.

Tag 118:
Bob merkte, dass es knapp werden würde und begann das Pferd zu hetzen.
Währenddessen aß der König ein angeknabbertes Brot und einen leicht unerfreulichen Schinken im nicht mehr ganz so weit entfernten Schloss.

Tag 120:
Eigentlich wäre eine kurze Rast nötig gewesen um das Pferd ausruhen zu lassen und zu tränken. Die Zeit wurde knapp, also ritten sie weiter.

Tag 123:
Zwei Meter vor dem Schloss brach das Pferd entkräftet zusammen und starb auf der Stelle. Bob rannte mit dem Dachdecker und der Unbedenklichkeitsbescheinigung zum König und verkündete freudestrahlend, dass er alle seine Ziele erreicht habe.

Bob sprach zum König: „Ich habe alle Ziele erreicht. Hier steht ein Dachdecker und er hat eine Unbedenklichkeitsbescheinigung von der Dachdeckergilde. Lobe mich, oh royaler Auftraggeber.“

Der König war zufrieden, lobte seinen Sohn und gab diesem den versprochenen Bonus — fünf Goldstücke und eine Truhe aus intelligentem Birnbaumholz.

Doch bald darauf musste der König erkennen, dass sich die Sache mit dem Dach doch etwas komplizierter gestaltete. Trotz Unbedenklichkeitsbescheinigung wollte der Dachdecker im Voraus bezahlt werden. Außerdem konnte der Dachdecker noch immer nicht mit der Arbeit beginnen. Zwar standen ihm alle benötigtren Materialien und Gerätschaften zur Verfügung. Allerdings waren die Dachbalken verfault. Das verdross den König so, dass er seine jüngste Tochter, Carol, zu sich bestellte:

„Carol, der Dachdecker ist da, aber das Dach ist weg gefault. Der Dachdecker sagt, so kann er nichts tun. Bob verhandelt gerade mit ihm über dessen Bezahlung und auch das gestaltet sich zäher als erwartet. Es ist nicht zu erwarten, dass er vor März fertig ist. Auch Alice ist immer noch nicht zurück. Währenddessen verfällt mein Schloss immer mehr. Die Lage ist ernst. Carol, hilf mir. Suche einen Zimmermann, der die Dachbalken repariert, damit der Dachdecker seine Arbeit tun kann.“

Carol sah sich kurz im Zimmer um und sagte dann:

„Steh mal auf!“

„Wie soll das helfen, einen Zimmermann zu finden?“

„Soll es gar nicht“, sagte sie streng. „Steh auf!“

Dem greisen König schwante, dass Carols Hilfe noch viel unbefriedigender ausfallen werde, als die seiner beiden anderen Kinder. Aber mehr Kinder hatte er nicht und so war Carol seine letzte Hoffnung.

„Willst du nicht wenigstens ein SMARTes Ziel definieren und einen Plan austüfteln, wie du einen Zimmermann findest?“.

„Nein. Steh auf.“

„Aber…“

„Nix aber. Paps, es ist Winter und an den Plastikplanen vor den Fenstern haben sich schon Eisblumen gebildet. Und du sitzt im Nachthemd auf dem blanken Steinboden vor den modernden Überresten deines Küchentischs. Steh auf, verdammt nochmal!“

Der König grunzte missmutig, schnaubte durch die Zähne und stand widerwillig auf. Der Boden war durch das königliche Gesäß einigermaßen aufgewärmt worden und er befürchtete, dass er bei der aktuellen Raumtemperatur diesen Vorteil recht schnell verlieren würde.

„Wie wirst du den Zimmermann finden, Carol?“

„Pff… keine Ahnung. Weiß ich noch nicht.“

„Wie lange wird es dauern?“

„Werden’s sehen.“

„Wie viel wird es kosten?“

„Kommt drauf an. Ist jetzt erstmal egal. Ich werde dir helfen. Aber nicht, indem ich dir einen Zimmermann suche. Ich werde auch keine SMARTen Ziele definieren oder sonstiges Brimbamborum veranstalten. Ich werde einfach tun, was sinnvoll ist. Und jetzt ist erstmal sinnvoll, dass du dir mal was Gescheites anziehst und dich auf einem Kissen vor den Kamin hockst. Dann erzählst du mir, was du eigentlich haben willst. HOPP!“

Der König tat wie ihm geheißen, zog sich seinen löchrigen, alten Mantel über und setzte sich ans wärmende Kaminfeuer. Dann sagte er:

„Ich will einen Zimmermann.“

„Nein, willst du nicht. Was willst du haben?“

„Ich will einen Zimmermann, der die Dachbalken repariert.“

„Warum?“

„Damit der Dachdecker seine Arbeit machen kann.“

„Warum?“

„Damit das Dach wieder ganz ist.“

„Und warum muss das Dach repariert sein?“

„Na, weil es da reinschneit!“ schrie der König. „Es ist kalt und ungemütlich hier. Alice hat zwar ne Plastikplane vors Fenster geklebt, aber die ist nicht schön.“

Carol lies sich nicht beeindrucken und fragte weiter: „Und warum muss es hier gemütlich sein?“

„Äh… nun, ein gemütliches Zuhause ist ein Stück Lebensqualität. Außerdem mache ich mir Sorgen, dass ich krank werde und an einer Lungenentzündung sterbe, wie damals eure Mutter.“

„Du willst also gesund sein und ein angenehmes Leben führen, OK. Vorhin hast du was von ner Plastikplane erzählt. Was ist damit das Problem?“

„Nun, weißt du, die Plastikplane schützt zwar etwas vor dem kalten Wind, aber sie ist sehr hässlich. Es geziemt sich nicht für ein Märchenschloss, dass es mit Plastikplane verhängt ist. Das ist ein Anachronismus. So etwas hat in einem Märchen nichts verloren.“

„Gutgut, also keine Anachronismen. Wenn du dir das schönste Schloss erträumen könntest, wie würde es aussehen?“

„Ach Carol, ich bin Realist. Ich mag nicht träumen.“

„Egal. Hopp, träume. Du willst, dass ich dir helfe, also mach!“

„Is ja schon gut! Also mein Traumschloss ist ein schnuckeliges, kleines Märchenschloss; nicht zu protzig, aber es soll irgendwie ‚magisch‘ wirken. Die Leute sollen zu mir aufsehen, mich als weisen und gerechten König betrachten und das Land soll von einem wunderbaren, blühend-oktanimem Zauber umgeben sein.“

„Sehr schön. Du wünschst dir also Gesundheit und Lebensqualität, ein ‚kleines, schnuckeliges, magisches Schloss‘ und du willst als weiser und gerechter König über ein blühendes Zauberreich regieren. Das ist ein weiter Weg. Und wir werden da wahrscheinlich nie ankommen. Aber das ist ein Ziel mit dem ich arbeiten kann.“

Und Carol arbeitete. Zuerst kaufte sie noch etwas mehr Brennholz und einen schicken, warmen, aber nicht zu protzigen warmen Mantel für ihren Vater. Sie lies die Speisekammer von den ratten befreien, ausräuchern und besorgte neue Lebensmittel.

Dann lies sie den Schornstein fegen, bevor dieser einen Kaminbrand entwickelte und organisierte dem König einen Urlaub… äh… also sie erklärte ihrem Vater, dass er als König natürlich regelmäßig Hof halten musse. Dazu habe er jede seiner Städte regelmäßig zu besuchen. Selbstverständlich hatte dann die jeweilige Stadt für diese Zeit das beste Haus zur Verfügung zu stellen und für das Wohl des Königs zu sorgen.

Während der König auf Reisen war, verkaufte Carol das baufällige Schloss und erwarb ein Grundstück auf einem Kleinen Hügel mitten in dem kleinen Königreich. Dort lies sie ein großes, gemütliches Haus bauen. Nach seiner Rückkehr konnte der König dort wohnen.

Sodann gab sie einen Turm in Auftrag und stellte einen Zauberer an, dem sie das Turmgemach übereignete. Sodann lies sie fähige Berater für den König suchen. Mit der Zeit kamen noch ein paar Türme und einige Wirtschaftsgebäude dazu. In der Zwischenzeit musste Carol auch einen Nachfolger für den verunglückten Magier suchen, eine Hungersnot bekämpfen, die Intrigen eines korrupten Beraters vereiteln, Alice wiederfinden, sich mit Bob streiten und allerlei andere Probleme lösen.

Und auch wenn nicht immer alles perfekt lief und das gesetzte Ziel für immer unerreichbar bleiben würde, so musste der König doch zugeben, dass er immer zufriedener wurde.

Und so lebten, regierten und optimierten sie glücklich und zufrieden bis an ihr Lebensende.

So oder so ähnlich würde ich das Märchen von den SMARTen Zielen erzählen. Letztens war ich auf einer Schulung — „Train the trainer“. Dort hat man mir beigebracht, wie man Schulungen hält. Insgesamt fand ich die Schulung ganz hilfreich und werde davon das ein oder andere in meine Schulungen einfließen lassen.

Nur eines passte an der Schulung nicht — meiner Meinung nach. Es hieß, wir sollten für unsere Schulung SMARTe Ziele definieren. Und irgendwie, fand ich, passte das nicht. In der Schulung selbst war ich noch der Meinung, dass das eigentlich eine gute Idee war, nur eben für mich nicht passte, weil es Probleme löste, die ich nicht habe. Nicht jeder Trainer hat die selben Stärken und Schwächen. Logischerweise. Aber als ich mir danach noch ein paar Gedanken zu SMARTen Zielen gemacht habe, bin ich mittlerweile anderer Meinung.

Als ich SMART im Studium gelernt habe, ist mir das noch gar nicht aufgefallen. Jetzt aber finde ich, dass SMARTE Ziele gut klingen, aber letztendlich problematisch sind.

Die Wikipedia hat folgendes Beispiel für ein SMARTes Ziel:

„Ich werde jeden Tag 2 Stunden für die Ende des Monats anstehenden Klausuren lernen.“

Das ist ein sehr schönes Beispiel, weil man gut daran beobachten kann, was an SMARTen Zielen so gefährlich ist.

  • SMARTe Ziele passen sich nicht an, wenn sich die Situation ändert: Der Lehrer wird krank und die Klausur verschoben…
  • SMARTe Ziele verschieben Prioritäten: Nein, Mama, ich kann jetzt nicht den Krankenwagen rufen, ich muss für die Klausur lernen…
  • SMARTe Ziele schießen über das eigentliche Ziel hinaus: Ich kann jetzt schon alles, aber es sind noch fünf Tage übrig, also muss ich trotzdem weiter das üben, was ich schon kann.
  • SMARTe Ziele sind unflexibel und demotivierend: Nein, du darfst jetzt nicht draußen spielen, du musst lernen. Auch, wenn du noch so sehr behauptest, danach besser lernen zu können.
  • SMARTe Ziele erlauben nicht das Ziel anders zu erreichen: Du möchtest das Fach wechseln? Lieber Französisch statt Latein lernen? Du meinst, Latein ist doch nichts für dich? Sorry, diese Erkenntnis widerspricht deinen Zielen.

SMARTe Ziele sind ein Märchen. Ein gefährliches Märchen. Es hört sich so nachvollziehbar, so sinnvoll und so einleuchtend an. Und natürlich — es entbehrt nicht einer gewissen inneren Logik. Trotzdem: Ich denke, SMARTe Ziele richten tendenziell mehr Schaden an, als sie nutzen.

Stattdessen postuliere ich eine andere Art von Zielen. Ziele müssen wie ein Kompass sein, müssen der Orientierung dienen. Ein Kompass zeigt immer nach Norden, zum Nordpol, und man schaut regelmäßig drauf um die Richtung nicht zu verlieren. In aller Regel wird man nicht den Nordpol selbst erreichen. Und das ist auch gar nicht nötig. Allein dass man weiß, in welcher Richtung sich der Nordpol befindet, hilft einem, sich zu orientieren.

Wie aber muss so ein Ziel sein? Ich schlage folgendes vor:

North POLE:

P: Permanently checked
So, wie man regelmäßig auf den Kompass schaut, muss man regelmäßig überprüfen, ob man mit dem, was man tut, noch die gesetzten Ziele verfolgt oder ob man seine Richtung ändern muss, damit man sich nicht verläuft.
O: Out of reach
Gute Ziele sind unerreichbar weit entfernt. Es geht nicht darum, sie zu erreichen. Es geht darum, ihnen immer näher zu kommen.
L: Long-term
Ziele müssen langfristig stabil sein. Ein Ziel, das sich ständig ändert, ist so hilfreich, wie ein Nordpol, der sich ständig versetzt. Natürlich können sich Ziele mal ändern. Das sollte aber nicht die Regel sein.
E: Endmost
Das Problem an manchen Zielen ist, dass sie nicht die eigentlichen Ziele sind, sondern nur „Etappenziele“. Klar, muss man Ziele irgendwie operationalisieren, d.h. einen Weg finden, wie man da hinkommt. Aber nicht der Weg ist das Ziel. Wenn sich herausstellt, dass es einen anderen, einen besseren Weg gibt, hat der alte Weg, das „Etappenziel“, keinen inhärenten Wert.

Es ist also egal, ob es nun genau drei Prüfungen sind und es geht auch nicht um die Banane. Es geht noch nichtmal um den Dachdecker. Es geht darum, das zu tun, was sinnvoll ist. Und SMARTe Ziele helfen nicht unbedingt dabei, das Sinnvolle vom weniger Sinnvollen zu trennen.

Also: Eicht eure Kompasse, schnallt eure Schuhsohlen fest und packt frischen Atem ein! Wir ziehn gen Norden.

2 Kommentare


  1. Geile Geschichte! Da sieht man mal wieder, dass man mit einer Prise logischem Menschenverstand, einer Unze guten Requirements Engineerings und einer guten Portion Pragmatismus deutlich weiter kommt, als blind irgendwelchen Konzepten zu folgen.
    Oder frei nach der Sesamstraße: wer nicht (hinter-)fragt bleibt dumm.


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