Auf der Arbeit kümmere ich mich gerade um die Zielarchitektur für unsere Abteilung. Deshalb hab ich mir mal ganz allgemein Gedanken darüber gemacht, was das eigentlich heißt. Man könnte jetzt meinen, ich überleg mir, wie das System in 5 Jahren aussehen soll, finde raus, was wir noch tun müssen, um da hin zu kommen und definiere dann einzelne Schritte bzw. Arbeitspakete. Das hört sich total einleuchtend an, aber ich bin der Überzeugung, das ist genauso einleuchtend wie falsch.
Vor einiger Zeit hab ich ja schonmal erklärt, dass ich nicht viel von so genannten „smarten Zeilen“ halte bzw. dass diese in einfachen Fällen vielleicht sinnvoll sind, aber in vielen anderen eher kontraproduktiv. Siehe Das Märchen von den smarten Zielen. In dem selben Artikel beschreibe ich auch eine alternative Art von Zielen, die, zwar nicht in allen, aber doch in vielen Fällen hilfreicher sind. Und dort definiere ich das Akronym North POLE:
- Permanently-checked
- So, wie man regelmäßig auf den Kompass schaut, muss man regelmäßig überprüfen, ob man mit dem, was man tut, noch die gesetzten Ziele verfolgt oder ob man seine Richtung ändern muss, damit man sich nicht verläuft.
- Out of reach
- Gute Ziele sind unerreichbar weit entfernt. Es geht nicht darum, sie zu erreichen. Es geht darum, ihnen immer näher zu kommen.
- Longterm
- Ziele müssen langfristig stabil sein. Ein Ziel, das sich ständig ändert, ist so hilfreich, wie ein Nordpol, der sich ständig versetzt. Natürlich können sich Ziele mal ändern. Das sollte aber nicht die Regel sein.
- Endmost
- Das Problem an manchen Zielen ist, dass sie nicht die eigentlichen Ziele sind, sondern nur „Etappenziele“. Klar, muss man Ziele irgendwie operationalisieren, d.h. einen Weg finden, wie man da hinkommt. Aber nicht der Weg ist das Ziel. Wenn sich herausstellt, dass es einen anderen, einen besseren Weg gibt, hat der alte Weg, das „Etappenziel“, keinen inhärenten Wert.
Eine Zielarchitektur muss so ein Nordpol sein. Bei genauerem Hinsehen passt vielleicht das Bild des Polarsterns besser. Der Nordpol ist ja nicht unerreichbar weit entfernt, der Polarstern schon. Welche Eigenschaften hat also so ein Polarstern? Der Polarstern…
- …dient der Orientierung
- …ist klein und punktförmig,
- …hell schimmernd,
- …unerreichbar
- …und gut sichtbar am Himmel zu erkennen
Ganz ähnlich muss eine Zielarchitektur sein:
- Sie dient der Orientierung
- Das bedeutet, dass es eben nicht „das System in 5 Jahren“ ist, sondern lediglich ein Idealbild, das der Orientierung dient.
- Ist grob und vereinfachend
- Es ist nicht sinnvoll, jedes Detail auszuarbeiten. Das führt leicht an der Realität vorbei, kostet viel zu viel Zeit und die Welt dreht sich derweil weiter. Es geht noch nichtmal um Ausnahmen und Sonderfälle. Die wird es immer geben. Es geht darum, zu verhindern, dass es nur Ausnahmen und Sonderfälle gibt. Das wird nämlich passieren, wenn man sich keine Gedanken macht.
- Erstrebenswert
- Die Zielarchitektur soll motivieren und ein Bild von einer „glorreichen Zukunft“ zeichnen. Jeder soll das Gefühl haben „ja da will ich hin, ich will mithelfen, dass das wahr wird“.
- Unerreichbar
- Ja, ein Zwischenziel ist keine Zielarchitektur.
- Und jedem bekannt
- Eine Zielarchitektur, die keinem bekannt ist, ist keinen Pfifferling wert. Alle müssen ja am selben Strang ziehen. Also sollte jeder die Zielarchitektur kennen, im Wiki die Details nachlesen können und möglichst noch auf einem Plakat an der Wand ständig vor Augen haben.
Am besten haben alle Beteiligten bei der Definition der Zielarchitektur mitgewirkt. Und genau das hab ich in den nächsten Wochen vor.
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Hi Christian,
gute Punkte. Welche Abhängigkeiten siehst du zwischen einer Zielarchitektur auf technologischer Ebene (Komponenten, Kontexte und Informationsflüsse) und einer Produktausrichtung?
Basiert auf den Anforderungen die meine Systeme heute abbilden müssen und die in ähnlicher Form als Blaupause gegen neue Anforderungen gelegt werden können, ist es einfacher einen Polarstern zu definieren, als wenn die Richtung, in die sich das Produkt entwickeln soll, noch unbekannt ist.
Heißt für mich, die besten Ergebnisse erreicht man, wenn man einen Polarstern für die Produkt-Vision hat und diese mit dem Architektur-Stern übereinander legen kann.
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Hi Simon,
so, würde ich das sagen, ja. Wobei das wohl darauf ankommt, in welchem… Stabilitätsgrad sich dein Produkt befindet.
Angenommen, du hast ein Produkt, das eine halbwegs stabile Marktnische ausfüllt und du möchtest es vor Feature Bloat bewahren. Natürlich kannst du in so einem Fall versuchen, voraus zu planen, wie dein Produkt in 5 Jahren aussieht. Aber ich vermute, das funktioniert nur dann, wenn der Markt in dieser Nische wirklich sehr vorhersehbar ist. Ein Polarstern ist da wohl besser. Der würde einfach beschreiben, was in Zukunft als möglicher Teil des Produktes anzusehen wäre und was out-of-scope ist und eher in ein anderes Produkt gehört. So gesehen gibt es hier eine direkte Parallele.
Wenn du aber noch deine Marktnische suchst, kann es mitunter schwer sein, einen Polarstern zu definieren (und so ein 5-Jahres-Plan geht erst recht nicht). Letztens hab ich einen interessanten Podcast Zum Thema Gründen gehört. Da geht es genau um ein Produkt, das seine Nische gesucht hat. Ein Polarstern hätte da nicht geholfen. Das ist einfach eine Zeit des Suchens und Umherirrens.
Meine Ahnung, was Marketing betrifft, ist aber begrenzt. Das Beschriebene ist meine Vermutung, nicht mehr.
Die eher schwergewichtigen Architekturframeworks wie TOGAF sehen für Architektur eine ähnliche Überdeckung vor, wie du es vorschlägst. Dort definiert man eine „Business Architecture“ und danach eine „Technology Architecture“, die darauf mappen sollte. Dasselbe kann man auch mit einem Polarstern machen, denke ich.